Impuls vom 12. Dezember

Die Utopie des Menschlichen

Über die Sehnsucht nach neuen Bildern

«There’s a crack in everything, that’s how the light gets in.» – Leonard Cohen

Ein Diktator ist gefallen. Auf der Suche nach Angehörigen und anderen Vermissten brechen syrische Bürger die Tore der brutalen Foltergefängnisse auf. Dabei suchen sie nach Menschen, die möglicherweise jahrzehntelang ohne Prozess verhaftet, eingesperrt und misshandelt wurden. Mit jeder Gefängnistür, die geöffnet wird, werden Menschenleben gerettet. Mutig und unerschrocken öffnen sich genau in diesem Moment die Tore zu einem freien Land und einer freien Zukunft.

3700 Kilometer nordwestlich feiern die meisten von uns in einer völlig anderen Realität die Vorweihnachtszeit. Mit Vorfreude auf das große Fest zählen wir die Tage und zünden jede Woche eine neue Kerze an, bis es endlich so weit ist.

Der zweite Advent. Ein Kind möchte die zweite rote Kerze auf dem grünen Tannenkranz anzünden und öffnet nach dem Adventslied aufgeregt eine Tür seines Adventskalenders.

So viele Realitäten können nebeneinander bestehen und machen es manchmal schwer, den Sinn im eigenen Handeln zu erkennen. Angesichts der humanitären Katastrophen können uns unsere Festtagsrituale sogar banal erscheinen.

Doch Rituale sind wichtig und schön und geben uns Halt – gerade, wenn wir unsere alltäglichen Sorgen und die Sorgen um die Lage der Welt tragen. Sie unterbrechen den Alltag und ermöglichen es uns, uns auf das Wesentliche zu besinnen. Bewusst etwas Ästhetisches zu gestalten – als achtsames Zeichen der Liebe, aus Sehnsucht nach Schönheit, Sinn und aus der unweigerlichen Verbundenheit mit anderen Menschen, nah und fern, trotz oder gerade wegen aller Sorgen. Es ist die liebevolle Geste, die zählt. Mit einem Ritual setzen wir ein Zeichen für die Menschlichkeit.

Die Familienidylle ist besonders in der Weihnachtszeit ein verheißungsvolles Bild, das uns überall begegnet. Doch wenn man die eigene Familie betrachtet, wird auch dieses Bild schnell brüchig, und man erkennt, dass die Familie oft alles andere als idyllisch ist.

Woher stammt dieser hartnäckige Mythos der Familienidylle? Warum wird die Utopie der perfekten Familie gerade an Feiertagen so hervorgehoben und vermarktet? Besonders in den dunklen Dezembertagen sehnt man sich nach Lichtpunkten in der eigenen Familie und wünscht sie auch anderen Menschen. Dafür ist der Frieden im Kleinen eine unverzichtbare Voraussetzung.

In Anbetracht der kriegerischen Weltlage fragte ich mich am ersten Advent betrübt, ob nicht auch der Weltfrieden bloß ein Mythos ist – ein zu hohes Ideal, wenn so oft nicht einmal der Familienfrieden in den eigenen vier Wänden gelingt, obwohl der Frieden doch aus Menschlichkeit entsteht.

Nein, als regulative Idee erscheint er sinnvoll und erstrebenswert. Wir brauchen das Kontrafaktische als Nordstern – ebenso wie wir die Sehnsucht brauchen. Und wir brauchen die Fantasie, so wie wir Ideale brauchen. Denn was sonst wird uns aus unserem Elend befreien? Was sonst wird uns Halt geben? Was sonst wird uns trösten?

Ein Lichtpunkt der Hoffnung schenkte mir der zweite Advent. Mit dem Fall eines Diktators wurde ein erstes Zeichen des Friedens gesetzt. Das Ideal, dass Menschen in Frieden und Freiheit leben können, rückt näher.

Der Dezember ist stets doppeldeutig, und genau das macht ihn so schwierig. Im Westen ist die bürgerliche Idylle der glücklichen Familie eine Sehnsucht vieler. Die Werbung verführt uns und überhäuft uns mit Bildern von glücklich aussehenden Familien. Doch dieses Glück kann man nicht kaufen, und diese Bilder bestehen oft nur aus einer hauchdünnen Schicht des schönen Scheins. Das wissen wir zwar, doch die Wirkung von Bildern ist stärker als unser Wissen. Bilder wirken direkt auf unser Unterbewusstsein. Laut dem Philosophen und Psychoanalytiker Jacques Lacan ist die Sprache des Unbewussten eine Bildersprache. Bilder wecken und verstärken unsere Sehnsüchte.

Welche Bilder sprechen uns an und können uns in den dunklen Dezembertagen Hoffnung schenken?

Könnte man nicht mit anderen Bildern und Botschaften die Sehnsüchte der Menschen ansprechen? Können wir keine neuen Bilder erschaffen, die eine andere Sehnsucht wecken – nach einer Utopie des Möglichen, einer Utopie des Menschlichen? Bilder, die uns in unseren tiefsten Sehnsüchten erreichen und uns eine Vision zeigen, die wir tatsächlich verwirklichen können. Bilder, die uns reale Hoffnung schenken, anstatt falsche Illusionen zu verbreiten.

Wenn ich die prekäre Weltlage betrachte, sehne ich mich nach neuen Bildern der Humanität. Ja, lasst uns das Humane feiern. Denn inmitten aller politischen Misere sehnt man sich zutiefst nach Versöhnung – nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern für die gesamte Menschheit. Die gebrochene Menschheit ist bedürftig, wie das Kindlein in der Krippe. Sie will ganz werden und braucht heute mehr denn je die Hoffnung, dass das möglich ist.

Dafür müssen wir uns in unserer Einzigartigkeit schätzen und uns in unserer Gebrochenheit annehmen. Denn das ist das Reale, das Menschliche – etwas, das umarmt und nicht bekämpft werden muss. Es will in Frieden und Freiheit gelebt werden. Es ist alles, was wir haben. Wir sollten das kostbare, zerbrechliche Leben hüten, schätzen, hochhalten, loben – und lieben. Aus diesem Grund zünden wir die Kerzen an.

Das ist mein Weihnachtswunsch: Lasst uns an das Humane glauben! Denn die wahre Botschaft der Humanität ist die des Menschen, der es nicht duldet, unterdrückt zu werden, sondern der nach Freiheit und Frieden strebt.

 ~ Maria