Impuls vom 3. Dezember
Jesaja 11, 1–10
«Es ist ein Reis entsprungen»
Lesung aus dem Buch Jesaja
An jenem Tag wächst aus dem Baumstumpf Ísais ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.
Der Geist des Herrn ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.
Und er hat sein Wohlgefallen an der Furcht des Herrn. Er richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet er nicht,
sondern er richtet die Geringen in Gerechtigkeit und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt das Land mit dem Stock seines Mundes und tötet den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen.
Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften und die Treue der Gürtel um seine Lenden.
Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie.
Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind.
Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus.
Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie die Wasser das Meer bedecken.
An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Ísais sein, der dasteht als Feldzeichen für die Völker; die Nationen werden nach ihm fragen und seine Ruhe wird herrlich sein.
Beim Wort Advent denkt man schnell an einen besinnlichen Abschluss und einen gemütlichen Ausklang des Jahres. Angesichts der Anstrengungen der vergangenen Monate und der vielen negativen und besorgniserregenden Schlagzeilen aus aller Welt ist das nur allzu verständlich. Die Geschäfte locken mit einem Versprechen besonderer Behaglichkeit: von der grün-rot-karierten Kuscheldecke mit Wendefunktion über Kombigeräte wie Raclette-Ofen mit Mongolen-Grill oder Schokoladen-Brunnen bis hin zu würzigen Räucherkerzen. Es braucht manchmal schon etwas Willensstärke, um den Einkaufswagen nicht zu überladen – so zahlreich sind die Angebote, die unsere eigenen vier Wände in der kalten Jahreszeit noch heimeliger machen sollen. Vielleicht ist es auch ein Ausdruck unserer Ohnmacht angesichts der grossen Probleme unserer Zeit: Wenn wir die Welt nicht verändern können, versuchen wir wenigstens, ein warmes Refugium zu schaffen.
Der heutige Lesungstext aus dem Buch Jesaja will nicht so recht zu dieser bürgerlichen Idylle passen, die sich aus dem Weltgeschehen ins familiäre Paradies zurückzieht. Der Text aus dem Alten Testament, der in der christlichen Tradition als Ankündigung Jesu verstanden wird, eröffnet eine andere Perspektive auf den Advent. Wie es Andreas Vonach von der Universität Innsbruck ausdrückt, zeichnet der Text eine «universale Friedens- und Heilsvision, gesprochen in eine von Gewalt, Hass und Unheil geprägte Welt». [1] Im Bild eines Reis, eines mutig aufkeimenden neuen Triebs, der allen Widerständen zum Trotz aus einem abgeschlagenen Baumstumpf erwächst, werden nicht nur die Völker und Nationen, sondern auch die Tierwelt, ja die ganze Schöpfung in eine allgemeine Hoffnungsperspektive mit hineingenommen. Der Baumstumpf steht symbolisch für das Königsgeschlecht Davids, das einen neuen, einen gerechten König hervorbringen wird. Seine Herrschaft ist gekennzeichnet vom „Geist des Herrn“, von Weisheit, Einsicht, Rat, Stärke, Erkenntnis und Gottesfurcht. Durch ihn werden die gesellschaftlichen Verhältnisse umgedreht. Ja, unter seiner Herrschaft findet der Wolf Schutz beim Lamm. Nicht mehr Gewalt und Dominanz bestimmen dann die Welt, sondern Gerechtigkeit und Solidarität.
Die Vision des Propheten Jesaja fordert uns heraus und ermutigt uns, bei unserer Hoffnung, bei unserer Sehnsucht nach Frieden, nicht im Kleinen, im Persönlichen stehen zu bleiben, sondern das Grosse in den Blick zu nehmen. So ist sie für Andreas Vonach «Hoffnungsvision und Handlungsauftrag zugleich» [2]. Was können wir dazu beitragen, dass dieser Keim der Hoffnung Frucht bringt?
Advent vom Lateinischen adventus, das bedeutet Ankunft und nicht Abschluss, nicht Rückzug, sondern mutiger Neuanfang.
In diesem Sinne wünsche ich Euch eine lichtvolle Adventszeit.
~ Paul
PS: Noch ein Lied-Tipp: Es ist ein Reis entsprungen
[1] https://www.bibelwerk.de/fileadmin/sonntagslesung/a_advent.2_l1_jes.11.pdf
[2] Ebd.