21. Dezember

Wir, der Baum

Früher habe ich mir das Leben geradlinig vorgestellt.
Heute verstehe ich, dass das Leben viel mehr ist
als ein Anfang gefolgt von einem Ende.

Obwohl der Baum lebt,
so sterben doch ständig gewisse Teile von ihm
und werden durch neue ersetzt:
Die zarte weisse Blüte des Apfelbaums
weicht der saftigen Frucht.
Die grünen Blätter verwelken und fallen
und schaffen so Platz für junge Knospen.
Immer und immer wieder.

So ist es auch mit uns Menschen,
und überhaupt mit allem, was lebt.
Auch wenn wir als Ganzes nicht sterben,
so sterben doch immer wieder Teile von uns.
Gutes und Schlechtes kommt und geht.
Es entsteht Platz für Anderes, Neues, Besseres.
Jeden Morgen, bei Anbruch eines neuen Tages,
sind auch wir ein neuer Mensch.

~Kim

Sommeranbruch

Ein Kerker aus Eis
um mich, auf mir
die Welt in Schwarzweiss
es ist still hier
Brennende Kälte
schreiender Schmerz
raubt mir den Atem
aber mein Herz
schlägt weiter

Es glaubt noch immer
an den Frühling
ein Hoffnungsschimmer
ein Feuerring
mich zu entfachen
meine Freunde
mit ihrem Dasein
trotz der Wände
halten mich

Manchmal drang ein Riss
warm zu mir vor
eh’ der Nacht kalter Biss’
ihn wieder fror
Mit steter Nahrung
und rotem Licht
erwachen Knospen
öffnen sich, ich
öffne mich

Vorbei der Winter!
bunt die Blumen
Höre den Klang der
Turteltauben
singe mit ihnen
Sommeranbruch
hab’ mich verliebt in
ihn, sie, und mich
ins Leben

Schneeflocken schmelzen auf meiner Haut.

~Anouk

Lesung des Tages

Hohelied 2,8-14

Horch! Mein Geliebter!

Sieh da, er kommt.

Er springt über die Berge,

hüpft über die Hügel.

Der Gazelle gleicht mein Geliebter,

dem jungen Hirsch.

Ja, draussen steht er

an der Wand unsres Hauses;

er blickt durch die Fenster,

späht durch die Gitter.

 

Der Geliebte spricht zu mir:

Steh auf, meine Freundin,

meine Schöne, so komm doch!

Denn vorbei ist der Winter,

verrauscht der Regen.

Auf der Flur erscheinen die Blumen;

die Zeit zum Singen ist da.

Die Stimme der Turteltaube

ist zu hören in unserem Land.

Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte;

die blühenden Reben duften.

Steh auf, meine Freundin,

meine Schöne, so komm doch!

Meine Taube im Felsennest,

versteckt an der Steilwand,

dein Gesicht lass mich sehen,

deine Stimme hören!

Denn süss ist deine Stimme,

lieblich dein Gesicht. 

© Revidierte Einheitsübersetzung 2016